Es ist verboten zu verbieten


In den sechziger Jahren revolutionierte die Tropicália-Bewegung die Musik Brasiliens.

Jetzt kehren die Helden von einst zurück, und junge Künstler greifen das Erbe auf


Von Jonathan Fischer


Im Jahr 1966, als Os Mutantes sich gründeten, lebten brasilianische Popmusiker gefährlich. Wer im Verdacht stand, die traditionelle heimische Musik zu verunreinigen, oder es gar wagte, gegen die an die Macht geputschten Generäle anzusingen, konnte schnell von der Bühne verschwinden. So landeten kritische Sänger wie Caetano Veloso und der spätere Kulturminister Gilb  erto Gil unter falschen Anklagen im Gefängnis, und es durften viele Alben der unter dem Namen Tropicália versammelten Freigeister gar nicht oder nur zensiert erscheinen. Die Diktatur fürchtete ihre Ideenwelt: die Infizierung der brasilianischen Jugend mit dem westlichen Schund von Sex, Drogen und Rock ‚n‚ Roll einerseits – viel mehr noch aber die politischen Auswirkungen der von ihnen zelebrierten Freiheit.

Der Druck jedoch schweißte sie zusammen. »Es ist verboten zu verbieten«, hieß eine der Parolen der von Musikern, Schriftstellern und bildenden Künstlern getragenen Tropicália-Bewegung. Erlaubt war dagegen jede Form von Bastardisierung, und am radikalsten brach der psychedelische Art-Rock der Mutantes mit der staatlich verordneten Biederkeit: Er führte Jimi Hendrix mit Bossa Nova und Musique concrète mit absurdem Straßentheater zusammen. Viele Experimente von damals nahmen gar die Sampling-Technik des Pop vorweg – einer der Gründe, warum Os Mutantes trotz ihrer Auflösung Mitte der siebziger Jahre in Brasilien und darüber hinaus beinahe mythische Verehrung genossen. Kurt Cobain, The Flaming Lips und Devendra Banhart erklärten sich zu Fans, David Byrne brachte ihre Klassiker auf seinem Luaka-Bop-Label neu heraus. Beck nannte gar ein Album in offensichtlicher Anspielung Mutations – und sang als Tribut Tropicália.

Und heute? Zeigt die unverhoffte Rückkehr der Mutantes, dass die Ideen der Tropicalistas ihre Strahlkraft nicht verloren haben. Haih Or Amortecedor nennt sich das Comeback, für die Nichtinitiierten informiert ein Sticker: »From the band that changed everything«. Auch wenn 35 Jahre nach dem letzten regulären Album von der Originalbesetzung nur Bandleader, Komponist und Gitarrist Sergio Dias übrig geblieben ist, führt das Album die Mutantes-Geschichte nahtlos fort: mit surrealen Texten, die, wie im Baghdad Blues, Saddam Hussein, Uncle Sam und Ali Baba zum Klang arabischer Ouds Schlagworte herbeizitieren. In merkwürdig rhythmisierten Geräuschen und drastischen Stilwechseln, in denen Hardrock- und Jazz-Passagen sich mit trägem Latin Soul abwechseln. Man braucht Zeit, um diese Platte genießen zu können: Erst beim zweiten und dritten Hören erschließen sich die stilistischen Nuancen, wird das raffinierte Zusammenspiel von Bläsern und Becken, Sambatrommeln und Rückkopplungen erkennbar. Pop als großes Collagen-Theater! Eine Erlösung fast, wenn die Os Mutantes mit dem von Jorge Ben Jor geschriebenen Samba-Funk O Careca schließlich den Bogen vom Elfenbeinturm des Art-Rock zur Straße spannen.

Von dort kommt der junge Popstar Marcio Local. Es ist kein Zufall, dass sein zweites Album Don Dree Don Day Don Don gerade auf David Byrnes Luaka-Bop-Label herauskommt, übersetzt der in einem Arbeiterviertel Rios aufgewachsene Sänger doch das Befreiungspotenzial der Tropicália für die Generation Hip-Hop. Dabei bezieht sich Local ganz offensichtlich auf eine frühere Generation von Helden: Ein großes Tattoo auf seinem rechten Arm zeigt Jorge Ben Jor – der Samba-Soul-Veteran gehört zu den Musikheiligen Brasiliens. Auf dem linken Arm des Sängers prangt dagegen Fela Kuti. In dem nigerianischen Afrobeat-Pionier sieht Local einen Geistesverwandten der Tropicalistas: Auch Kuti mischte Pop mit Politik und bot den Diktatoren daheim singend die Stirn. »Ich würde seine Geschichte gerne in die Favelas tragen«, erklärt der junge Popstar. »Zeigen möchte ich Fela Kuti als Musiker aus der Oberschicht, der sich mit den Armen solidarisiert.«

»Represento« – »ich stehe für andere ein« – singt Local mit sanftem Bariton in einem seiner neuen Songs. Er preist die Sambaschulen seines Viertels und mokiert sich über die Verwechslung von globalisiertem Konsum – Harry Potter, McDonald‚s, Freiheitsstatuen vor Einkaufszentren – mit echter Freiheit: »Wer frei ohne Wahrheit ist, bleibt doch eine Puppe«. Darunter brodelt ungestümer, bläsergetriebener Samba-Soul, dessen traditionelle Instrumentierung mal von Raps, mal von einem scratchenden DJ, einer Steel-Guitar oder einem froschähnlich quakenden Gastsänger gebrochen wird. So gewagt das bisweilen klingen mag: Don Dree Don Day Don Don swingt so hart wie der Titel verspricht.

Ähnlich experimentell gibt sich die Musik der 29-jährigen CéU. Die Tochter eines Komponisten aus São Paulo durchlief eine klassische Musikerziehung, studierte Gesang in New York und ließ sich dort ebenso vom Jazz Billie Holidays wie von der Hip-Hop-Esoterik einer Erykah Badu inspirieren. Ihr Debütalbum CéU begeisterte 2007 die Kritik: Ein experimenteller Lichtblick inmitten der von Elektro-Bossa-Geplätscher geprägten Musikexporte Brasiliens. Auch die neue CD Vagarosa beschreitet unvermessenes Territorium: Als ob die katzenartige Stimme von Norah Jones auf den Eklektizismus des Reggae-Produzenten Lee Perry stoßen würde.

Die Collage-Tugenden der Tropicalia sind hier omnipräsent: etwa wenn CéU sich in Cangote an Orgelriffs, verhallten Gitarren und Plattenscratches entlanghangelt und die Klangsplitter mit ihrem laszivem Gurren unterlegt. Ihr Gesang stellt Intimität her – und rutscht doch niemals ins allzu Liebliche ab: Dafür sorgen die spröden, psychedelischen Funkrhythmen ihrer Begleitcombo – und so manch gewollter Bruch: Das Album beginnt mit einem akustischen Samba, dessen Nostalgie nach genau 55 Sekunden im Knistern zerkratzten Vinyls ertrinkt. In Espaconave wiederum werden Stimmen, Rückkopplungen und Feldaufnahmen von Tieren des Regenwaldes übereinandergeschichtet.

Nein, CéUs Coolness biedert sich nicht an. Vielmehr beweist ihr Album, dass der brasilianische Pop gerade dann gewinnt, wenn er die Klangklischees westlicher Caipirinha-Bars links liegen lässt – und stattdessen mit dem aus aller Welt angeschwemmten Treibgut Collage spielt. In dieser Hinsicht ist das Erbe der brasilianischen Tropicalistas heute wohl wichtiger als je zuvor: Während der Spätkapitalismus die kulturellen Ränder des Pop entdeckt und die McDonald‚s-Werbung bizarrerweise einen alten Os-Mutantes-Song einsetzt, bleibt ihr ästhetisches Prinzip der verstörende Mix: »Wen interessiert schon der Unterschied zwischen kultiviert und kitschig?«, erklärte Bandleader Sergio Dias einmal. »Wir verschlingen alles. Wichtig ist doch nur die Reibungshitze, die wir erzeugen.«


Os Mutantes: Haih Or Amortecedor (Anti Records/Starkult) Marcio Local: Don Dree Don Day Don Don (Luaka Bop/Soulfood Music) CéU: Vagarosa (Exil/Indigo)

Die legendäre Gruppe Os MUtantes vereinte Bossa Nova, Jimi Hendrix und absurdes Straßentheater