Soul Survivors
Halten wir uns an die Unwägbarkeiten! Was wir feiern, wenn wir alte Soulstars feiern
Der Soul feiert Geburtstag – und niemand kommt, um zu gratulieren. So ungefähr muss man sich die Gefühlslage von Veteranen wie Mavis Staples, Etta James, Ben E. King, Kim Weston, Latimore, Harold Melvin, Jimmy Ruffin oder die einstigen Impressions Sam Gooden und Jerry Butler vorstellen, die allesamt in den letzten Monaten ohne großes Aufhebens ihr 70. Lebensjahr vollendeten. Waren sie nicht alle Sprachrohre einer Revolution? Aushängeschilder eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins, das einer Figur wie Barack Obama den Weg ebnete? Und um wie viel kälter wäre ein Amerika ohne ihre Stimmen? Allein Tina Turner wurde im November anlässlich ihres 70. Geburtstages gewürdigt. Wobei diese Zeitung der Mähnenlöwin des Soul bereits ein Jahr vorher gratulierte – kursieren doch in diversen Soullexika und Internetseiten die Geburtsjahre 1938 und 1939. Auch bei Mavis Staples oder Kim Weston liegen die Biographen miteinander im Streit. 20. oder 30. Dezember? 1939 oder 1940? Möglicherweise also wird Staples, eine der größten Überlebenden des Sixties-Soul, die Huldigungen offiziell erst 2010 entgegennehmen.
Ist es also an der Zeit, das überfällige Geburtstagsständchen an eine ganze Generation nachzuholen? Die Lebensläufe – von der Gospeljugend zum Sündenfall des Soul, der Aufbruchsparty der Bürgerrechtsbewegung bis zur Beerdigung unter einem Disco-Tsunami – noch einmal herunterzubeten? Nein, diese Seite würde dazu kaum ausreichen. Halten wir uns also lieber an die Unwägbarkeiten. Nicht nur in Tina Turners, Kim Westons und Mavis Staples’ Leben, sondern auch in den Leben ihrer Vorgänger, Altersgenossen und Kolleginnen. Basiert doch die halbe Historie der schwarzen Musik auf: Gerüchten. Augenzeugenberichten. Sich widersprechender Oral History.
Es fängt schon bei den Geburtsdaten an: Wenn man die junge Tina Turner oder Mavis Staples möglicherweise aus arbeitsrechtlichen Gründen ein Jahr älter machte, dann liegt hier noch eine sehr moderate Täuschung vor. Bei anderen Popstars wie Grace Jones beträgt die Spannbreite der Spekulation ganze vier Jahre (1948 oder 1952). Geht man noch weiter zurück, wird das Gelände immer sumpfiger: Das Leben der Blueslegenden – eine einzige Wahrscheinlichkeitsrechnung. Niemand weiß genau, wann Big Bill Broonzy, Leadbelly, Robert Johnson, Blind Lemon Jefferson oder Skip James geboren wurden. Rekordverdächtig schillernd die Angaben zu Sonny Boy Williamson II. Sein Grabstein führt als Geburtstag den 11. März 1908, sein Pass den 7. April1909 und auch die Jahreszahlen 1894, 1897, 1899 und 1901 kursieren in verschiedenen Biographien.
Allerdings produzierte die Welt des Soul, in der die heute 70-Jährigen aufwuchsen, genug Legenden, um die besten Märchenerzählungen in den Schatten zu stellen. Kann es wirklich sein, dass ruchlose Veranstalter den Rhythm’n’Blues Sänger Earl King 1958 dazu brachten, eine ganze Tournee für den kurzfristig erkrankten Guitar Slim zu absolvieren und sich Abend für Abend als ebendieser auszugeben – was ihm eine Morddrohung des Hintergangenen einbrachte? Dass die im siebten Monat schwangere und wegen einer Gelbsucht im Krankenhaus liegende Tina Turner, im August 1960 mit Hilfe einer Verkleidung aus dem Hospital flieht, weil Ike Turner sie unbedingt auf der Bühne brauchte?
Nun warum nicht, könnte man fragen. Warf doch der durch eine Gotteserscheinung bekehrte Little Richard zur selben Zeit seine Juwelen in einen Fluss. Trat Solomon Burke bei einem Gig in Alabama von Kopf bis Fuß bandagiert auf – vom Sheriff als tapferer Überlebender eines Autounfalls angekündigt, um die weißen Zuschauer im Glauben zu lassen, der Country singende Soulman teile ihre Hautfarbe. Und wie bizarr muten erst die Todesumstände Sam Cookes an? Er checkte in einer Dezembernacht 1964 in einem ziemlich heruntergekommenen Motel in Watts, Los Angeles, ein und wurde dort in Notwehr erschossen. So erzählte es zumindest die Motel-Managerin: Cooke habe, nachdem eine Prostituierte mit seinem Kleidern und seinem Geld geflohen war, gedroht ihre Tür einzutreten. Doch viele Fans glaubten diese Geschichte nicht. Setzten Gerüchte in die Welt, die Entertainment-Industrie habe Cooke, der sich mit seinem Label selbständig gemacht hatte, ermordet. Beziehungsweise die Mafia. Beziehungsweise die CIA.
Die These liegt auf der Hand: Wer diesen Wahn einigermaßen unbeschadet überleben wollte (und nicht wie Marvin Gaye an einer Kugel, wie Ester Phillips am Heroin oder wie der wohl beeindruckendste Soulsänger von allen, O.V. Wright, an einer Mischung von Alkohol und Koks verrecken und anonym verscharrt werden wollte), der ist rechtzeitig abgesprungen, hat dem Strudel aus Drogen, Sex und Narzissmus radikal den Rücken gekehrt. Ja, es gibt sie, die gesunden Soulrentner: Jerry Butler etwa, der mit 70 Jahren als Bezirks-Bürgermeister von Cook County bei Chicago amtiert. Oder Al Green, Frederic Knight und Joe Simon, die wie Dutzende Kollegen in den Schoß der Kirche zurückgefunden haben und heute als Reverend oder Bishop den Sonntagsgottesdienst halten. Auch ehemals von Männern umschwärmte Soulvamps wie Candi Staton oder Ella Washington haben irgendwann allen weltlichen Songdramen abgeschworen und beschlossen, nur noch für den Herrn zu singen. Andere sind in die Sozialarbeit gegangen: Marvin Gayes Duettpartnerin Kim Weston etwa veranstaltete nach einem Comeback in den achtziger Jahren Gesangs-Workshops für Jugendliche in Israel und Amerika. Ann Peebles leitet einen Kindergarten für Lernbehinderte.
Sie alle sind noch mal davongekommen. Schließlich gehören Ghetto-Kindheiten, Rassismus und ausbeuterische Plattenfirmen fast zwangsläufig zu einer Soulsänger-Biographie. Frauen hatten im Macho-Business des schwarzen Pop noch schlechtere Karten. War da nicht auch die Soulsängerin Tammi Terrell, die angeblich vom Temptations-Sänger David Ruffin mit einem Hammer geschlagen, von James Brown eine Treppe runtergestürzt wurde und wenige Jahre später einem Gehirntumor erlag? Oder die heroinsüchtige Etta James, die längst ein großes Comeback verdient hätte?
Aber wenigstens dieser Trostpreis geht an Etta, Kim, Harold, Latimore und Co.: Wer in diesem Geschäft die 70 Jahre geschafft hat, der darf sich als Sieger einer Seelenschlacht fühlen. Und heißt zu Recht Soul Survivor. Ein Titel, der viel schwerer wiegt als das Prädikat Soulstar. Denn es ist doch die Mischung aus geschichtlicher Unschärfe und enttäuschter Leidenschaft, die dem Soul seine Aura schenkt. Und uns ein prächtiges Märchenbuch zum Selbstausmalen schenkt. JONATHAN FISCHER