Wenn die letzte Kugel verschossen ist
Warum ein fast blinder Albino aus dem mittleren Westen als Retter des Hip-Hop gilt
Rein äußerlich hat Brother Ali kaum etwas mit Barack Obama gemeinsam: Er ist weiß, stammt aus dem mittleren Westen, kämpft als Albino gegen das völlige Erblinden. Außerdem bekennt sich der in Minneapolis beheimatete Rapper zum Islam. Warum vergleichen Fans und Journalisten den Mann trotzdem so gerne mit dem hochgeschätzten Politiker? Liegt es an der rhetorischen Brillanz, mit dem Jason Newman alias Brother Ali bisher jeden MC Battle für sich entschieden hat? Oder daran, dass er als krasser Außenseiter ein schon tot geglaubtes Pop-Genre wieder mit Hoffnung erfüllt und im Ego-Zirkus Hip-Hop eine erstaunliche Wir-Euphorie entzündet hat? „Us” (Rhymesayers) heißt es sein neues Album. Ein Album wie ein Wahlprogramm. Nur persönlicher und voller wuchtigem Funk und Bläser-Blues.
Die Verkaufszahlen von Jay-Z oder 50 Cent wird die Platte aber natürlich nicht erreichen. Allzu fotogen ist Brother Ali ebensowenig. Aber wer nichts zu verlieren hat, der ist auch frei, und kann Bühnenpersona und Persönlichkeit zu größtmöglicher Deckung bringen: „I started rhyming just to be somebody/ found out that I already was/ ’cause can’t nobody be free unless we’re all free” rappt er zu Kirchengesängen und klatschenden Händen. Wer hat den Hip-Hop schon einmal so mitfühlend demaskiert? Als Mittel, jemand zu sein, um dann festzustellen, dass er schon jemand ist. Als Botschaft nicht eines einzelnen, sondern aller.
Das Cover von „Us” verzichtet auf alle üblichen Hip-Hop-Reize: Ein schwarz-weißer Scherenschnitt mit spielenden Kindern, die ein Puzzle zusammensetzen, alles erhaben geprägt wie Blindenschrift. Der Arbeitstitel lautete ursprünglich „Street Preacher”. Fans, so erklärt Brother Ali, hatten ihm den Titel verliehen. Beim Opener sekundiert ihm Chuck D von Public Enemy. Doch die wütenden Anklagen mit der Ali noch auf seinem letzten Album „The Undisputed Truth” das Establishment überzog, weichen hier eher introspektiven Tönen. Er kehrt zu den Ursprüngen des Hip-Hop zurück, beschwört ihn als Mittel positiver Identitätsstiftung. Immer wieder gab es solche Rückbesinnungen, etwa als Common, Mos Def und Talib Kweli vor einem Jahrzehnt eine sozialkritische Alternative zum Gangster Rap entwarfen. Als Kanye West den Zweifel und die Liebe hoffähig machte. Oder wann immer Chuck Ds Jünger die Parole von „Hip-Hop als CNN des Ghettos” bekräftigen. Doch was, wenn das Ghetto zum Selbstbedienungsladen der Film-Klischees geworden ist? Die letzten Kugeln verschossen, die letzten Champagnerflaschen geköpft, die letzten Zuhältermoritaten herausgebrüllt sind? Aus den Commons und Kwelis brave Werbefiguren geworden sind? Dann klopft Brother Ali an die Studiotür, um eine ganz andere Geschichte zu erzählen.
Jason Newmans Kindheit muss eine Qual gewesen sein: Er konnte als Albino nicht mit den anderen Kindern in die Sonne, erblindete zunehmend und hatte den Spott noch dazu. Sobald er ein Klassenzimmer, einen Spielplatz betrat, so erzählt es der Rapper mit dem weißen Flaum und den durchsichtigen Augenbrauen, stand er wider Willen auf einer Bühne: Schaut mal, der fette Albinojunge! In der Folge sucht der Sohn weißer Eltern zunehmend die Gesellschaft schwarzer Kinder: „Ihre Späße fielen weniger bösartig aus als die der weißen Klassenkameraden, sie nannten mich nicht Missgeburt, sondern Santa Claus.” Hip-Hop wurde Alis Mittel, um sich Respekt zu verschaffen. Seine Familie zog fast jedes Jahr um, und er forderte in jeder neuen Schule die besten Rapper heraus – und gewann immer. Später liest er die Autobiographie von Malcolm X und schließt sich einer schwarzen Moschee an. Hier fühlt er sich zum ersten Mal akzeptiert. Die Erfahrung führt dazu, dass Brother Ali sich keiner Hautfarbe mehr zuordnet, in Interviews die Annahme, er sei eigentlich schwarz, nicht dementiert – und damit große Verwirrung stiftet.
Im Jahre 2000 hatte seine selbst produzierte Kassette „Rites Of Passage” den Big-Money-Rap selbstbewusst heraus-gefordert. Wer feierte bis dahin schon ernsthaft den nächsten Gehaltsscheck der Post? Wer prahlte mit seiner neuen Ikea-Couch? Zusammen mit Produzent Ant von Atmosphere entwirft Brother Ali ein Panoptikum des nicht ganz so glamourösen Alltags. Sein 2003 erschienenes CD-Debüt „Shadows on the Sun” wird von Kritikern als Hip-Hop-Album des Jahrzehnts gefeiert. 2007 schreibt er die Antikriegs-Hymne „Letter To The Government”. Und als ein Mobilfunk-hersteller Druck ausübt, nicht zu politisch zu werden, brüskiert Brother Ali seinen Toursponsor mit „Uncle Sam
Goddamn” - und verzichtet lieber auf die Einnahmen.
Cool? Dieses Prädikat überlässt er gerne den anderen. Brother Ali ist gekommen, um die Party zu sprengen. Statt der „Realness” genannten Konsens-Authentizität zu folgen, rappt er über den ganz realen Stoff: über die Trennung von der Ehefrau, den Streit um das Sorgerecht für seinen sechsjährigen Sohn und den Krebstod der Mutter – und feuert dabei in drei Minuten mehr intelligente Reime ab als manche Konkurrenten auf einem ganzen Album. Hip-Hop reimt sich wieder auf Hoffnung. Obama mag als Prophet passé sein, Brother Ali hat die Zukunft noch vor sich. JONATHAN FISCHER